Als langjährigem Begleiter von Unternehmerfamilien begegnen mir in der Beratung regelmäßig Mythen und Glaubenssätze, die ich hier auf den Prüfstand stelle. Den Auftakt einer Beitragsserie mache ich mit dem Mythos aller Mythen:
Mythos #01: Das Unternehmen geht immer vor
Welcher Spross einer Unternehmerfamilie hat ihn nicht schon häufiger gehört, als ihm lieb ist, den Spruch „Das Unternehmen geht vor“? Ob es das Familienoberhaupt ist, das im Urlaub keine Zeit für die Kinder hat, weil es vom Unternehmen absorbiert wird, oder der Druck in eine bestimmte Richtung bei der Berufswahl: Gerne, wird dies mit der Priorität des Familienunternehmens begründet. Und diese muss oft auch herhalten für die Rechtfertigung hoher Thesaurierungs- und niedriger Ausschüttungsquoten. Von der Notwendigkeit, einen Ehevertrag zu schließen und tunlichst nicht ins Ausland zu verziehen, ganz zu schweigen.
Geht das Unternehmen tatsächlich immer vor? Ist es deshalb für die Unternehmerfamilie oft mehr Last als Lust? Sind die Mitgliedschaft in einer Unternehmerfamilie und/oder die Teilhabe an dem Familienunternehmen gar nicht erstrebenswert? Wie fast immer lohnt ein differenzierterer Blick. Im einleitenden Absatz sind fünf Situationen angerissen, in denen persönliche und Familieninteressen in Konflikt mit dem Unternehmensinteresse geraten können.
Die erste Situation ist eigentlich nicht spezifisch für Unternehmerfamilien, sondern kann bei jeglichem überdurchschnittlichen beruflichen Engagement auftreten. Wenn es im Unternehmen irgendwo kriselt oder ein Projekt dringend vorangetrieben werden muss, muss man nicht zwingend der Unternehmenseigentümer sein, um sich auch während der Urlaubszeit verantwortlich zu fühlen. Gleichgültig, ob man Unternehmenseigentümer oder „nur“ engagierter Angestellter ist, sollte man aber seinen Mitarbeitern vertrauen und ihnen etwas zutrauen. Wenn es dann noch gelingt, die eigenen Beiträge nicht als unersetzbar anzusehen, sollte selbst in Krisensituationen ein Dauereinsatz während des Urlaubs nicht erforderlich sein.
Spezifischer für Unternehmerfamilien ist die Erwartung an den Nachwuchs, in die Fußstapfen desjenigen Elternteils zu treten, das das Unternehmen leitet. Das bedingt dann meist auch eine entsprechende Berufsausbildung. Es ist aber niemandem damit gedient, wenn die Unternehmensleitung in die Hände einer Person gelegt wird, die diese Rolle aus irgendeinem Grund nicht ausfüllen kann oder will. Findet sich kein Familienmitglied für diese Rolle, muss der Schritt gegangen werden, eine familienfremde Geschäftsführung zu installieren. Ob die Familie dann noch Gesellschafter sein will und wie sie ihre Interessen aus größerer Distanz zum Unternehmen dann noch wahrnimmt, sollte Gegenstand eines sorgfältigen inhaberstrategischen Prozesses sein. Als dessen Ergebnis wird die Familie für sich geklärt haben, was für sie Sinn und Ziel einer gemeinsamen Vermögensbewirtschaftung ist, ob das Familienunternehmen weiter dazugehören soll und mit welcher Governance sie ihren Einfluss sicherstellen will. Es ist also nicht das Unternehmen, das vorgeht, sondern die Familie!
Weniger digital ist diese Entscheidung bei dem dritten oben genannten Beispielsfall, der Frage des Vorrangs von Thesaurierung oder Ausschüttung. Die jeweiligen persönlichen Interessen der Gesellschafter sind hier stark von ihrer Lebenssituation und ihrem sonstigen Vermögen beeinflusst, aber auch von ihrer Nähe zum Unternehmen und der Größe ihres Gesellschaftsanteils. Die „richtige“ Ausschüttungsquote wird sich deshalb nicht bestimmen lassen. Da hilft auch das Argument wenig, dass der Gesellschaftsanteil ohne eigene Leistung erlangt worden sei und die Familienmitglieder ihre Ansprüche deswegen zügeln sollten. Sinnvoll kann es aber sein, die Diskussion über die reguläre Ausschüttungshöhe von derjenigen über Sonderentnahmerechte bei besonderen Anlässen zu trennen. Wird für bestimmte Situationen ein disquotales Entnahmerecht oder die Möglichkeit zur Aufnahme eines Darlehens bei der Gesellschaft vorgesehen, vereinfacht das die Suche nach einer für alle akzeptablen regulären Ausschüttungshöhe oft erheblich. Auch diese Diskussion sollte Teil des inhaberstrategischen Prozesses sein und die Interessen aller Gesellschafter berücksichtigen. Das kann dazu führen, dass ergebnis- oder eigenkapitalabhängige Quoten bestimmt, eine Mindestausschüttung garantiert oder verschiedene Mechanismen über Zeit miteinander kombiniert werden. Letzteres bietet sich insbesondere dann an, wenn das Unternehmen in bestimmten Zyklen mehr oder weniger Kapital benötigt. Das Unternehmen geht nämlich nicht pauschal vor, es ist aber in der Regel der wichtigste Vermögensgegenstand der Familie und muss von dieser geschützt werden.
Damit es nicht auch vor der Familie geschützt werden muss, sollte diese möglichst homogen sein. Das ist angesichts unterschiedlicher Charaktere, Erfahrungen und Altersklassen meist schon herausfordernd genug. Deshalb versuchen die meisten Familien, Ehepartner und Adoptivkinder, sofern sie nicht im Familienverbund aufgewachsen sind, außen vor zu lassen. Dafür sind Regelungen zur Gütertrennung, zum Pflichtteilsverzicht und zu Vertretungsberechtigungen in der Gesellschafterversammlung erforderlich. Sie werden von den jungen Gesellschaftern zumeist als belastend empfunden, aber an dieser Stelle empfiehlt es sich tatsächlich, der Firma bzw. der Familienhomogenität den Vorrang einzuräumen. Denn diese sollte nicht durch persönliche Animositäten im Zusammenhang mit einer möglichen Ehescheidung belastet werden. Dieser Aspekt verliert erst dann an Bedeutung, wenn der Gesellschafterkreis so groß ist, dass das Querschießen eines Einzelnen weder die Stimmung unter den Gesellschaftern, noch die Entscheidungsfähigkeit des Unternehmens, noch den Erhalt des Familienvermögens gefährden kann.
Schließlich das Thema Wegzug ins Ausland: Erfüllt die Gesellschaft, an der der Wegziehende beteiligt ist, nicht bestimmte Voraussetzungen, sind die stillen Reserven, mit dem persönlichen Einkommensteuersatz zu versteuern wenn Deutschland durch den Wegzug das Besteuerungsrecht verliert. Je nach Größe des Gesellschaftsanteils des wegziehenden Gesellschafters und des Umfangs der hierauf entfallenden stillen Reserven kann die so entstehende Steuerlast eine Größenordnung erreichen, die den Verkauf zumindest eines Teils der Anteile erforderlich macht. Wenn dann in der Familie niemand bereit oder in der Lage ist, die Anteile aufzunehmen, droht die Veräußerung an Familienfremde und damit die Aufgabe der Geschlossenheit des Gesellschafterkreises. Zwar gibt es hier einige Strukturierungsmöglichkeiten zur Vermeidung der Steuer, sie sind aber komplex und führen zu Strukturen, die man sonst nicht gewählt hätte. Dennoch lohnt es darüber nachzudenken, weil eine faktische Immobilität heute von vielen Gesellschaftern als unzumutbar empfunden wird. Letztlich ist auch hier ein sorgfältiger Interessenabwägungsprozess erforderlich, nach dessen Ende erst feststeht, ob das Unternehmensinteresse vorgeht oder nicht. Sofern die Entscheidung gegen Wegzugsteuer-vermeidende Strukturen fällt, sollte überlegt werden, inwieweit die Familie dem Wegziehenden hilft: Hier kommen disquotale Entnahmerechte, Ansprüche auf Darlehensgewährung, Aufkauf von Anteilen durch Gesellschafter und sogar ein Anspruch auf Abkauf von Anteilen durch das Unternehmen in Betracht. Alle diese Lösungen haben ihre Vor- und Nachteile und es gehört auch zu den Aufgaben eines Inhaberstrategieprozesses, die Familienmitglieder in die Lage zu versetzen, hierüber kompetent zu entscheiden.
Der Mythos stimmt nicht.
„Immer“ geht das Unternehmen nicht
vor; dort, wo es das nicht tun soll, sollten die Interessen vorher aber
sorgfältig abgewogen worden sein.
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