Als langjährigem Begleiter von Unternehmerfamilien begegnen mir in der Beratung regelmäßig Mythen und Glaubenssätze, die ich hier auf den Prüfstand stelle. Den Auftakt einer Beitragsserie mache ich mit dem Mythos aller Mythen:
Mythos #02: Unternehmerkinder sind Glückskinder
Unternehmerfamilien treffen in der Öffentlichkeit oft auf die Erwartung, dass der durch das Familienunternehmen vermittelte Reichtum ein Segen sein müsse. Medienpräsente Vorbilder und fiktive Erzählungen befördern den Eindruck, dass mit ausreichendem Geld und jeder Menge Beziehungen alles möglich und das Luxusleben garantiert sind. Mit politischen Kampfbegriffen wie dem vom „anstrengungslos erworbenen Vermögen“ wird zusätzlich die immer virulente Neiddebatte angeheizt. In dieser Artikelserie soll es aber nicht um Mythen über Unternehmerfamilien gehen, sondern um die Mythen, die in Unternehmerfamilien selbst existieren. Die Innensicht der Familie ist meistens weniger glamourös und damit wirklichkeitsnäher. Aber auch hier gibt es gewisse Mythen, insbesondere über die Generationengrenzen hinweg. Nicht selten erwartet die Eltern- und Großelterngeneration von den Nachkommen eine gewisse Dankbarkeit für die materielle Unabhängigkeit, die die geschenkte Unternehmensbeteiligung vermittelt. Und je intensiver die ältere Generation, die jüngere auf die Übernahme von Verantwortung vorbereitet hat, desto größer ist die Erwartung, dass die Jüngeren darin eine große Chance erblicken. Diese Vorbereitung als solche, das Studium an einer renommierten Universität, die über die Familienkontakte vermittelten Möglichkeiten, Praxiserfahrungen zu sammeln, werden dabei genauso als privilegierende familiäre Mitgift verstanden wie die im Laufe der Jahre erlebten interessanten Familienreisen und -erlebnisse.
Aus der Sicht der Nachfolgegeneration sieht das oft weniger rosig aus. Sie spürt die Verantwortung für ein ererbtes Unternehmen in vielerlei Hinsicht: Gegenüber seinen Mitarbeitern und Geschäftspartnern, aber auch gegenüber der Vorgänger-Generation, deren Leistung nicht verspielt werden darf. Und meist wurde ihr auch noch eingeschärft, dass sie das Vermögen nur treuhänderisch für die Nachfolger-Generationen halte, so dass sie auch beim Gedanken an diese mehr Verantwortung als Glück verspürt. Demgegenüber entwickelt die Nachfolgegeneration nicht selten den Wunsch, etwas von dem ohne eigenes Zutun erworbenen Reichtums an die Gesellschaft zurückzugeben. Die Elterngeneration hingegen erwartet eher, dass eine bestimmte Rolle im Unternehmen übernommen, ein gewisses Wohlverhalten gegenüber der Familie gezeigt und Verhalten sowie Kommunikation gegenüber Dritten in vielen Dingen eingeschränkt werden. Und auch die enge Verbindung zu einer vielleicht vielköpfigen Familie, die durch die gemeinsame Miteigentümerschaft entsteht und zur Aufrechterhaltung der Identifikation mit dieser Rolle gefördert wird, bedeutet für manchen nicht nur Freude. Für die durch die drohende Wegzugsteuer mögliche Einschränkung in der internationalen Freizügigkeit gilt das erst recht. Nicht zuletzt hat der gesellschaftsvertraglich meist verlangte Ehevertrag schon so manche Eheschließung belastet.
Dennoch: In eine erfolgreiche Unternehmerfamilie hineingeboren zu sein, bringt zunächst einmal sehr viele Chancen mit sich. Auch wenn meist der Wunsch der Familie und der Wille der Betroffenen darin übereinstimmen, dass niemand allein von den finanziellen Erträgen der Beteiligung leben soll, federn diese doch so manche Sorge und Drucksituation ab. Auf dem Weg zum beruflichen Erfolg müssen sich Menschen ohne unternehmerischen Hintergrund über den starken Widerstand all derjenigen hinwegsetzen, die die jeweilige Position ebenfalls anstreben oder sie anderen verschaffen wollen. Der Spross einer Unternehmerfamilie ist derjenige oder einer von wenigen, dem die Entscheider eigentlich von vornherein gern eine sehr verantwortungsvolle Position einräumen würden. Dass auch das kein Automatismus ist, der Betreffende selbstverständlich das Potential für die Position haben und sich gegen andere Familienmitglieder und möglicherweise auch familiäre Missgunst durchsetzen muss, ist klar. Aber ein gewisser komparativer Vorteil des Nachwuchses einer Unternehmerfamilie gegenüber sonstigen jungen Leuten ist nicht zu übersehen.
Die angesprochenen Nachteile der Gesellschafterstellung lassen sich durch sinnvolle familiäre Vorkehrungen erheblich einschränken: Der wichtigste Punkt ist dabei, dass genau festgelegt wird, für welche Rollen Familienmitglieder in Betracht kommen, welche Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale sie dafür aufweisen müssen und wer das feststellt. Dieser Punkt ist so wichtig und so vielschichtig, dass ihm ein eigener Beitrag gewidmet werden soll.
Im Zusammenhang damit, aber nicht darauf beschränkt steht die Frage, wie die Nachfolgegeneration sinnvoll an die Übernahme der Gesellschafterverantwortung herangeführt werden soll, damit diese nicht als Last empfunden wird. Wer Führungsverantwortung im Unternehmen oder auch nur eine Beiratsfunktion irgendwo im familiären Konzerngeflecht übernehmen soll, muss jeweils spezifische persönliche und fachliche Qualifikationen mitbringen. Aber auch wer nur Gesellschafter sein will, sollte über ein gewisses betriebswirtschaftliches Grundwissen verfügen, das es ihm oder ihr ermöglicht, die Auswirkungen bestimmter strategischer Entscheidungen nachzuvollziehen. Und er/sie sollte die Geschichte, Werte und Ziele der Familie kennen. Mit diesem Rüstzeug werden die Erwartungen, die an Gesellschafter gestellt werden, besser zu bewältigen sein. Die Familie sollte Verfahren für den Erwerb dieses Rüstzeugs entwickeln. Dabei sollte auch das Kommunikationsverhalten geschult werden, sowohl gegenüber den Familienmitgliedern, als auch gegenüber dem Unternehmen und seinen Mitarbeitern. Wenn gleichzeitig das richtige Verständnis für die Gefahren vermittelt wird, denen vermögende Familien ausgesetzt sind, wird sich auch die erforderliche Sensibilität für die Grenzen der öffentlichen Kommunikation im Internet einstellen.
Gelingt es, mit den Werten und Zielen der Familie auch zu vermitteln, dass diese im Familienverbund viel besser zu verwirklichen und erreichen sind, wird sich auch ein Verständnis für Bemühungen zur Stärkung des familiären Zusammengehörigkeitsgefühls ergeben. Wenn die dem dienenden Maßnahmen und Veranstaltungen dann auch noch interessant gestaltet sind, wird sich vermeiden lassen, dass sie als lästig empfunden werden. Manchen entfernteren Familienangehörigen, zu dem es einen bisher noch nicht so hinzog, lernt man dann bald besser kennen und vielleicht auch mehr schätzen.
Diese und weitere Maßnahmen dienen dazu, die genannten Vorbehalte gegen den Eintritt in das Familienunternehmen (in welcher Form auch immer) zu lindern und den Mythos wahr zu machen. Sie bedürfen allerdings sorgfältiger Planung und sollten individuell auf die Bedürfnisse und Personen der betreffenden Familie abgestimmt sein. Ergebnis muss nicht immer eine „Gesellschafter-Akademie“ sein, wie sie manche ganz große Familien organisiert haben. Es geht auch viele Nummern kleiner und mit ganz maßgeschneiderten Angeboten. Idealerweise werden die entsprechenden Bedarfe innerhalb eines umfassenderen inhaberstrategischen Prozesses festgelegt, in dem die den Nachfolgern zu vermittelnden Werte, Ziele und Verfahrensweisen entwickelt werden.
Manche Eltern empfinden – nicht selten aufgrund eigener Erfahrungen – den durch die Mitgliedschaft in der Unternehmerfamilie, die potentielle Gesellschafterstellung oder gar die mögliche Funktionsübernahme ausgeübten Druck auf ihre Kinder als so belastend, dass sie diese möglichst weitgehend von der Familienunternehmenssphäre abzuschotten versuchen. Je besser die familieninternen Vorkehrungen gegenüber diesem Druck sind, desto weniger ist das erforderlich. Im Gegenteil: Dann wird die Heranführung an die Verantwortung sogar durch Konfrontation mit der Familie und ihrer Family Governance gefördert. Nicht zu verleugnende Herausforderungen der Mitgliedschaft in einer Unternehmerfamilie, wie zum Beispiel der übliche Zwang zum Abschluss eines Ehevertrags, werden dann besser verstanden und akzeptiert. Damit schmälern sie das Empfinden der Mitgliedschaft in einer Unternehmerfamilie als Glücksfall in geringerem Maße.
Schließlich gibt es in vielen Familien vielfältige Möglichkeiten, sich einzubringen. Dabei kann zum Beispiel durch ein philanthropisches Engagement dem Familienvermögen und dem eigenen Leben ein ganz neuer Sinn gegeben und das mögliche Unbehagen über den geschenkten Reichtum überwunden werden.
Der Mythos stimmt eigentlich, zumindest wenn die Familie durch die richtigen Vorkehrungen dazu beiträgt.
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